Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Europa besser machen – eine historische Chance

Von Michael  Bröcker

Von 2014 bis 2018 Chefredakteur Rheinische Post

Warum die Europawahl eine historische Chance ist, erklärt Michael Bröcker, Chefredakteur Rheinische Post, im NRW-Wirtschaftsblog.

Wie bitte? Ein positiver Text zu Europa? Ausgerechnet jetzt. Es geht doch alles den Bach runter mit dem angeblichen Zukunfts- und Schicksalsprojekt Europa (Helmut Kohl). Die Briten wollen uns verlassen, die Italiener wollen den Stabilitätspakt austricksen, die Ungarn liebäugeln mit illiberalen Demokratien und in Frankreich demonstrieren Tausende gegen den Liebling der Herzenseuropäer. Zerstritten in der Migrationsfrage, zerrieben zwischen Europaskeptikern in Washington und Europagegnern im Osten. Verschuldet, alt, träge.

Ja, gerade jetzt. Die Europawahl birgt eine historische Chance. Denn der Zustand Europas hilft. Wer sich in die Geschichte der großen Entscheidungen in den konsensorientierten westlichen Demokratiemodellen eingräbt, weiß, dass wir oft erst die Wand sehen müssen, vor die wir laufen könnten, bevor wir stoppen. Und umdrehen. Aufbruch vor dem Aufprall. Wir ahnen doch, dass nur ein integriertes Europa, nur die Einheit eines Bündnisses, das seine Freiheitsrechte lebt, unsere Zukunft ist, wenn sich traditionelle Partner absetzen wie die USA oder sich zur technologischen Globalmacht aufschwingen wie China. Europa muss reformiert werden, fit gemacht werden. Aber es muss zusammenbleiben, weil wir sonst zusammen irrelevant werden. Deshalb muss aus dem Pathos der Sonntagsrede endlich konkrete Politik montags folgen. Die Europäische Union braucht einen Weckruf. Einen Relaunch, wie wir Medienschaffenden sagen würden. Die Alternativen sind deutlich. Es gibt Kräfte, die wollen eine schlagkräftigere, fittere und robustere Union, die schneller entscheidet, sich auf die großen Themen konzentriert und Arbeitsteilung wirklich umsetzt. Ein Wachstums- und Wohlstandsmodell. Das zusammen nach vorne gehen will bei Themen wie Sicherheit, Wirtschaftsaustausch, digitaler Binnenmarkt. Das sich aber als Wertebündnis von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit versteht.

“Wir können gar nicht anders. Wir könnten die Wahlen zum Europäischen Parlament zu einer Abstimmung darüber machen, ob wir so weiterleben wollen, oder ob wir den Abstieg suchen.“

Und es gibt jene, die sich den Nationalstaat alter Prägung zurückwünschen, Brüssel abwickeln wollen. Dies wäre der sichere Weg in die internationale Bedeutungslosigkeit. Es lohnt sich also zu kämpfen, mit Initiativen wie „Pulse of Europa“. Mit Engagement und Präsenz. Auch durch Aufklärung in den Medien. Da kommen wir ins Spiel. Wir haben eine Verantwortung, wir können publizistischer Lotse sein, Transparenz herstellen. Wo bringt mehr Europa wirklich mehr Vorteile im Alltag? Der große Europäer Jean Monnet mahnte, die Vergemeinschaftung dürfe nicht „nur“ den Frieden sichern, sondern rationalen Nutzen bringen. Was kann das heute sein in einer Zeit der Verunsicherung, der Globalisierung und Digitalisierung? Und wo vernebeln Vorurteile den klaren Blick? Wo hat die EU mehr Freiheiten gebracht? Aber auch, wo führen Strukturen in die Irre, wo lähmt die Bürokratie? Darum muss es gehen. „Europa betrifft mich nicht“ kann keiner sagen. Wer atmet, wer reist, wer einkauft, wer arbeitet oder Wasser trinkt, erlebt Europa. Von den Luftreinheitsgrenzwerten über die Standards zur Wasserqualität bis zum freien Warenverkehr.

Europa ist der Austausch von Menschen. Erasmus für alle, möchte man meinen. Es gibt Parteien, die haben Lust auf dieses Miteinander, weil es jeden einzelnen bereichert. Wir Nordrhein-Westfalen können behilflich sein. Wir sind Europa im Kleinen. Ein Land der Mentalitäten, künstlich zusammengeführt, aber über die Jahre zusammengewachsen. Nirgendwo leben so viele EU-Bürger so dicht beieinander. 207 Europaschulen gibt es an Rhein und Ruhr, ein Rekordwert. Von Düsseldorf ist Brüssel näher als München. Die holländische Küste ist Urlaubsziel von Millionen, in weniger als vier Stunden sind wir im Elsass. Es waren der Lothringer Robert Schuman und der Rheinländer Konrad Adenauer, die 1100 Jahre nach Karl dem Großen die Erbmassen des Kaisers zusammenbrachten und die deutsch-französische Versöhnung zum Kern eines integrierten Europas machten. Das Ruhrgebiet war das Herz dieser Montanunion. Einheit in Vielfalt, so ist das hier. Wir Nordrhein-Westfalen sind überzeugte Europäer. Wir können gar nicht anders. Wir könnten die Wahlen zum Europäischen Parlament zu einer Abstimmung darüber machen, ob wir so weiterleben wollen, oder ob wir den Abstieg suchen. „Europa ist in einem desolaten Zustand“, sagt der Träger des Deutschen Buchpreises, Robert Menasse. Zeigen wir ihm, dass er unrecht hat.

Über den Autor
Michael Bröcker

Von 2014 bis 2018 Chefredakteur Rheinische Post

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